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Viel Spaß dabei!

Leseprobe

aus "Der Tengu von Tokio"

Kapitel 1

 

Leo blickte durch die Scheibe auf eine fremde Welt, die er eigentlich nicht mehr betreten wollte. Er hatte lange mit sich gerungen, ob er wirklich kommen sollte, aber Alina zuliebe stand er nun vor dem Restaurant. Drinnen sah er sie mit den anderen lachen. Immerhin saßen sie auf normalen Stühlen und nicht, wie ein Pärchen im Restaurant, auf dem Boden im Schneidersitz an einem der niedrigen Tische. Ein Blick auf seine Uhr verriet ihm, dass er schon zehn Minuten zu spät war. Höchste Zeit, reinzugehen. Er strich sein weißes T-Shirt und das Jeanshemd darüber glatt, dann trat er ein.

Ein Gedudel aus Flötenspiel und etwas, das sich wie eine Gitarre anhörte, empfing ihn im Inneren des Restaurants und vermischte sich mit den Geräuschen aus der Küche. Die war durch eine lange Glasfront vom Gastraum getrennt, sodass man den Köchen bei ihrer Arbeit zusehen konnte. Es zischte und brutzelte auf den Herdplatten und gerade wurde ein großer Reiskocher geöffnet, aus dem in einem riesigen Schwall Dampf aufstieg.

Alina erkannte ihn schon von Weitem und sprang auf. Sie trug eines ihrer Lieblings-Outfits: ein ärmelloses schwarzes Top, dazu ein grauer hochtaillierter Rock mit Blumenmuster und Schleife.

Seine Mundwinkel zogen sich wie automatisch nach oben. »Alles Gute zum vierundzwanzigsten Geburtstag!«, sagte er und umarmte sie.

Dabei stieg ihm ihr Parfum in die Nase. Sie hatte es schon bei der Karnevalsfeier im Februar getragen. Es duftete süß und fruchtig. Aber nicht wie billiger Kaugummi, sondern eher wie ein Duft, den man bei Seifen nobler Hotels vorfand. Dezent gehalten und dennoch so eindringlich, dass man ihn nicht vergaß.

Er löste sich von ihr und es kam ihm vor wie damals, nachdem sie als Prinzessin und Pirat eng umschlungen getanzt hatten. Nur heute zog sie ihn nicht an ihre Lippen. Sie hatten süß geschmeckt. Nach Energy Drink, mit einer Note Tabak. Es fühlte sich so weit weg an. Als wäre es schon Jahre her. Es fehlte ihm.

Leo beugte sich über den Tisch, um Svenja zu begrüßen. Ihre Haare waren mal wieder nicht mit ausreichend Haarspangen gesichert, denn als sie sich zurücklehnte, schob sie sich mehrere dunkelblonde Strähnen hinters Ohr. Kai neben ihr stand auf und schlug so heftig mit Leo ein, dass Kais braune Lockenpracht wippte. Vielleicht hatten sich Svenja und er gefunden, weil beide ihre Haare nicht im Griff hatten - oder eben, weil sie aus wohlhabenden Familien stammten.

Genau wie Henry. Der trug neben seinen dämlichen Holzfällerhemden, die er offensichtlich so cool fand, dass er sie jeden zweiten Tag anhatte, eine dicke, goldene Rolex am Handgelenk. Auch mit ihm schlug Leo ein, doch weniger enthusiastisch als mit Kai. Leo fragte sich bei Henrys Anblick, ob dieser jemals in seinem Leben so hart hatte arbeiten müssen wie ein Holzfäller. Oder wie jemand, der nicht als Jugendlicher hunderte Euros an Taschengeld bekommen hatte. Ob er wusste, wie es sich anfühlte, nach der Schule Zeitungen mit einem Bollerwagen auszutragen, oder wie die Kasse im örtlichen Kiosk funktionierte?

Leo nahm rechts von Alina Platz, damit er Henry nicht ansehen musste, der auf ihrer anderen Seite saß. Zwar hatte Leo so die Wand vor sich, aber das war das kleinere Übel. Er schnappte sich eine Speisekarte und überblätterte die ersten Seiten, auf denen es nur Vorspeisen und Sushi gab. Es musste ewig her sein, dass er das letzte Mal eine Maki, ein Nigiri oder Sashimi gegessen hatte. Zum Glück gab es auch Reis- und Nudelgerichte. Er wurde schnell fündig: Gebratener Reis mit Hähnchen. Reis mit Hähnchen kochte er sich auch zuhause regelmäßig in rauen Mengen, um abends nach dem Fitnessstudio seine Proteine essen zu können. Damit sollte er also nichts falsch machen.

Während die anderen noch in der Speisekarte stöberten, blickte Leo zur Wand. Einen speziellen Stil schienen die Betreiber nicht zu verfolgen, denn aus Leos Sicht passte die Dekoration nicht wirklich zusammen. Bösartig aussehende Holzmasken in Schwarz, Türkis und Rot mit spitzen Zähnen und teils langen Zungen oder Nasen hingen auf beiden Seiten eines Gemäldes. Das zeigte nur ein paar blaue Wellen, die kurz davor waren, an einem schmalen Boot zu brechen. Nicht gerade einladend.

Er sah über die Schulter und entdeckte an der gegenüberliegenden Wand einen schmucklosen, kreisrunden Spiegel, neben dem mehrere Schwerter angebracht waren und unter dem dünne Schnüre mit Perlen hingen. Leo erkannte darin kein stimmiges Bild.

»Ihr zwei nehmt die Osaka-Platte?«, fragte Alina an Kai und Svenja gerichtet. Die beiden nickten. »Möchte sich einer von euch die Tokio-Platte mit mir teilen?« Sie blickte abwechselnd zu Leo und Henry.

Leo holte Luft. »Ich wollte-«, begann er, stockte jedoch, da Henry so laut »Kappa-Maki?« rief, als wäre er der einzige Gast.

»Kappa-Maki«, wiederholte er jetzt in ruhigerem Ton und suchte offenbar in der Speisekarte nach dem Gericht. »Was ist denn das? Gurke! Mit Gurken kannst du mich nicht von meinen Crunchy Fitness Rolls weglocken.«

Alina setzte ein enttäuschtes Gesicht auf. »Komm schon. Ein bisschen Gemüse würde dir auch mal gut tun. Außerdem habe ich Geburtstag.«

»Hm.« Henry seufzte theatralisch. »Na gut, ich füge mich deinem Willen«, sagte er, hob die Hände und verbeugte sich tief vor ihr.

Leo schüttelte innerlich den Kopf, doch zu seiner Überraschung kicherte Alina und boxte Henry freundschaftlich gegen die Schulter. »Du Quatschkopf.«

Kurz darauf kam eine Kellnerin zu ihnen, mit Zettel und Stift bewaffnet. »Darf es schon etwas zu trinken sein?«, fragte sie in brüchigem Deutsch.

Die anderen schienen bereits so weit zu sein, denn reihum bestellten sie etwas, das Leo nicht zuordnen konnte, weshalb er schnell die Getränkekarte aufschlug. Beim Bier wurde er fündig. Unter »Kirin« stand »Yebisu«, beides Namen, die die anderen gerade genannt hatten, und bei denen es sich um japanische Marken handelte. Zum Glück lautete der dritte Eintrag »Kölsch«. Schließlich waren sie in Köln.

»Ein Kölsch, bitte«, sagte Leo, als er dran war.

»Vier Yebisu, ein Kölsch. Essen wisst ihr auch schon?«

Nach einer Runde kollektiven Nickens orderte Alina ein paar Vorspeisen für alle, dann ihre Platten und wieder war Leo der letzte, der seine Bestellung aufgab. Die Kellnerin sammelte die Speisekarten ein und lief Richtung Küche.

Kurz darauf balancierte sie fünf Biergläser zu ihnen und hatte für jedes einen Bierdeckel dabei. Mit geübten Handgriffen beförderte sie die Getränke auf den Tisch.

»Auf deinen Geburtstag«, rief Henry und hob demonstrativ sein Glas.

Sie stimmten ein und es klirrte, als sie anstießen. Leo war froh, das Bier zu schmecken. Ein vertrauter Geschmack in einer fremden Umgebung.

»Du machst es richtig, Leo«, sagte Svenja plötzlich.

Er schaute sie verwundert an. »Was meinst du?«

»Das Kölsch. Ich werde es bestimmt vermissen. Morgen ist ja der Tag der Wahrheit …«, sagte sie und sprach damit die bevorstehende Uni-Vergabe an.

Sie alle würden nächstes Semester in der Welt verstreut sein. Jeder von ihnen an einer anderen Uni. Bei seiner Wahl des Studienprogramms in Köln war das Auslandssemester einer der wichtigsten Gründe für ihn gewesen. Er wollte während des Studiums und dann später im Beruf etwas von der Welt sehen. Andere Länder bereisen, fremde Kulturen kennenlernen und Freunde auf der ganzen Welt finden.

»Hoffentlich klappt New York«, meinte Kai.

Er verschränkte die Arme hinter dem Kopf.

Alina klatschte leise in die Hände. »Ich fände es so cool, wenn ihr beide quasi Nachbarn bleibt. Hier in Köln nur ein paar Straßen und dann drüben, wenn du tatsächlich nach Toronto gehst, Svenja.« Sie wandte sich zu Leo. »Wohin wolltest du noch gleich?«

»Am liebsten nicht allzu weit weg und irgendwohin, wo es warm ist. Italien oder Portugal vielleicht.« Er blickte sie an. Vor der Karnevalsfeier hatten sie noch gemeinsam überlegt, wie es wäre, wenn sie beide in Spanien und Portugal unterkommen würden. Offenbar hatte sie es vergessen, sonst hätte sie ihm diese Frage nicht gestellt.

Generell war es anders zwischen ihnen. Nicht mehr so locker und unbefangen. Als hätten sie eine Abzweigung genommen, die in einer Sackgasse mündete und merkten nun, dass sie dort vielleicht gar nicht hin wollten. Leo zumindest wusste es nicht genau. Er hatte es verpasst, mit ihr über das zu sprechen, was auf der Party geschehen war. Und da sie es ebenso wenig ansprach, stand es zwischen ihnen wie eine Mauer. Eine Mauer, die sie leicht umstürzen konnten. Sie taten es aber nicht.

»Ich jedenfalls möchte nach Spanien«, sagte Alina und riss Leo aus seinen Gedanken. Dass sie ihn dabei ansah, machte ihm wieder Hoffnung. Im nächsten Augenblick drehte sie sich jedoch zu Henry. »Und du? Sagst du jetzt endlich mal, was auf deiner Liste ganz oben stand, oder machst du weiterhin so ein großes Geheimnis daraus?«

»Tja. Überraschung.« Henry war einer der Besten im Bachelor gewesen. Das hatte er Leo ganz am Anfang, als sie sich gerade einmal einen oder zwei Tage gekannt hatten, nebenbei erzählt, als würde er von seinem Wochenende berichten. Es hatte ihn direkt unsympathisch gemacht. Als wäre es völlig normal, mit seinen Noten anzugeben. Leo war da anderer Meinung.

»Egal«, meinte Alina und zuckte mit den Achseln. »Bei deinen Noten brauchst du dir sowieso keine Sorgen zu machen. Du wirst eh deine erste Wahl kriegen.«

»Ja, ihr Jungs habt es echt gut«, sagte Svenja.

Leo brauchte einen Moment, bis er ihre Worte realisierte.

»Hm?«, brummte er in ihre Richtung.

»So wie ihr durch das erste Mastersemester gejagt seid, könnt ihr euch doch sicher sein, an eure Wunsch-Unis zu kommen.« Sie seufzte laut.

Aber nur die Noten aus dem Bachelor - und nicht aus dem Master - waren relevant für die Vergabe der Partner-Universitäten. Wäre Leo an den Bachelor schon genau so diszipliniert herangegangen wie an den Master, müsste er sich jetzt keine Sorgen um die Zuteilung machen.

Die anderen schienen davon auszugehen, dass er im Bachelor ebenso gute Noten geschrieben hatte wie jetzt. Wenn sie nur wüssten.

Die Kellnerin durchbrach die Stille, als sie eine Schüssel Edamame sowie zwei Teller mit je sechs Gyoza brachte. »Einmal Hähnchen, einmal vegetarisch. Sojasauce findet ihr beim Besteck.«

»Jo, Kai, reichst du mir mal die Stäbchen?«, fragte Henry und spannte sie dann so zwischen die Finger, als hätte er sein Leben nichts anderes getan.

Leo suchte vergeblich nach Gabeln und als Alina ihm ein Paar Stäbchen hinhielt, nahm er sie zähneknirschend an. Sonst musste er nur mit welchen essen, wenn er bei seinen Eltern zu Besuch war. Svenja indes schnappte sich eine Bohne nach der anderen und schien sie förmlich auszusaugen. »Wow. Asiatisch könnte ich jeden Tag essen. Richtig gut.«

Während Leo eine Gyoza mit den Stäbchen zu seinem Mund führte, beugte sich Henry vor. »Hast du eigentlich Familie in Asien, Leo?«

Mit einem Mal stieg Hitze in Leos Brust auf und er ließ das Essen auf den Teller sinken. Er versuchte, seinen Puls mit langgezogenem Ausatmen wieder auf ein normales Niveau zu bringen. Unter dem Tisch bohrten sich seine Fingernägel in die Handballen. »Wie kommst du darauf?«, entgegnete er schärfer, als er gewollt hatte. Aber Henry sollte ruhig sagen, was er dachte.

»Ich meine«, begann er und legte ein unsicheres Lächeln auf. »Du … also …«

»Jeder, der solche Augen hat wie ich, muss auch Familie in Asien haben, ja?«

»Leo«, sagte Alina sanft und legte ihm eine Hand auf den Oberarm. »Lass gut sein.«

Doch er wollte es nicht gut sein lassen und wischte ihre Hand weg. Er hatte nichts mit Asien zu schaffen. Nicht mehr. Seit der siebten Klasse war er »Leo«. Geboren in Göttingen. Deutscher. Nur weil er asiatisch aussah, hieß das nicht, dass er mit Japan irgendetwas zu tun hatte. Das wollte er nämlich nicht im Geringsten. Er mochte weder Sushi noch Sake noch Manga oder Anime. Und freiwillig würde er auch niemals nach Japan reisen. Für kein Geld der Welt.

»Komm«, sagte er zu Henry. »Sag schon. Los.« Henry antwortete nicht. Nur betretenes Schweigen am ganzen Tisch. »Soll ich dir sagen, wo ich geboren wurde? Ja? Soll ich?« Er hatte keine Kontrolle mehr über seine Stimme. Sie stach wie eines der Schwerter an der Wand durch die Luft und wurde immer höher.

»Leo!«, sagte Alina jetzt ernst. »Es reicht wirklich. Wir sind hier, um zu feiern. Also vertragt euch.«

Seine Finger zitterten aus Ärger über Henry so sehr, dass ihm die Gyoza aus den Stäbchen in das kleine Schälchen Sojasauce plumpste. Er musste mehrmals ansetzen, bis er sie endlich wieder gepackt hatte. Sie schmeckte viel zu salzig.

Einen Augenblick später brachte die Kellnerin die Hauptspeisen. Leo wunderte sich über das Grünzeug auf seinem Reis und nachdem er den ersten Bissen genommen hatte, griff er schnell nach dem Bier. Hatte der Koch da Spülmittel in sein Essen gepackt? Es war widerlich.

»Stimmt etwas nicht?«, fragte Svenja plötzlich und blickte ihn verunsichert an.

Er verschluckte sich und zeigte hustend mit einem Stäbchen auf das Grünzeug.

»Ah, Koriander. Nicht so deins?«

»Ne.«

Er schob den Koriander beiseite und nahm vorsichtig ein Stück Hähnchen in die Zange. Es schmeckte normal. Glück gehabt.

Eine halbe Stunde und zwei Runden Bier später hatte das letzte Stück Sushi Platz in Kais Magen gefunden.

Das nahm Alina zum Anlass, um auf die Tischkante zu trommeln. »So, wenn wir jetzt alle satt und zufrieden sind, hätte ich noch einen Wunsch.«

Satt war Leo, ja, aber von zufrieden konnte keine Rede sein. Immerhin schmeckte das Kölsch, wie es schmecken musste.

»Und zwar wünsche ich mir, dass wir uns nach der Klausurenphase und vor dem nächsten Semester alle noch einmal sehen.« Sie blickte erwartungsvoll in die Runde und erntete allgemeines Kopfnicken. »Schön«, sagte sie und zückte ihr Handy, auf dem sie die Kalender-App öffnete. »Wie wäre es mit dem letzten Freitag im Juli? Na, was sagt ihr? Wie sieht’s da bei dir aus, Leo?«

So weit im Voraus hatte er noch gar nicht geplant. »Weiß ich gerade nicht auswendig.«

»Ja, geht mir ähnlich«, sagte Kai. »Dann lass uns doch eine Online-Umfrage erstellen, in der jeder eintragen kann, wann er - oder sie - kann. Ich setze später eine auf.«

»Na gut«, sagte Alina und steckte das Handy wieder weg. »Dann jetzt Nachtisch? Ich will unbedingt die Mango-Kokos Mochi probieren.«

Leo bestellte keinen Nachtisch, sondern wollte einfach nur heim. Viel zu lange hatte er es hier schon aushalten müssen.

***

Nach dem Dessert verließen sie das Restaurant und Leo atmete gierig die frische Mailuft ein. Sie verabschiedeten sich und Kai, Svenja und Henry machten sich auf zur nächsten Bahnhaltestelle. Nur Alina und Leo waren mit dem Rad da. Nachdem er sein Fahrrad aufgeschlossen hatte, drehte er es in Richtung Süden. Von Alina erntete er dafür einen gespielten Seufzer. »Fährst du nicht mit mir oben am Hiroshima-Nagasaki-Park lang?«

Er zwang sich zu einem Lächeln und schüttelte den Kopf, da sie das Thema nicht zum ersten Mal hatten.

»Dass du immer diesen Umweg machst - versteh ich nicht.«

»Die Ampeln-«

»Jaja, ich weiß. Die Ampeln sind dort viel besser geschaltet und du musst nicht an jeder Kreuzung anhalten.«

»So ist es«, log er und zuckte mit den Schultern. Tatsächlich war es ein Umweg. Und obwohl er Alina so sehr mochte, würde er sie heute Abend wieder nicht begleiten.

»Wir sehen uns morgen.«

 

Kapitel 2

Endlich war der Moment gekommen, an dem sie Gewissheit darüber bekamen, wo sie das nächste Semester verbringen würden. Die Kellnerin am Eingang reichte Leo ein Sektglas und so, wie sie ihm eine »schöne Zeit« wünschte, hatte sie das offenbar schon etliche Male an diesem Abend gesagt. Ein Gemurmel lag in der Luft und breitete sich in dem alten Gemäuer aus.

Nachdem sie ihre Namensschildchen erhalten hatten und Leo die anderen vorgehen sah, legte er Alina sanft eine Hand auf die Schulter.

»Warte kurz«, bat er sie und holte sein Handy aus der Jacketttasche. Sie drehte sich zu ihm und sah ihn fragend an. »Ich möchte eben ein Foto machen, bevor ich es nachher vergesse.«

»Wenn, dann richtig«, sagte sie. Im nächsten Moment legte sie einen Arm um ihn und drehte sein Handy, sodass sie ein Selfie machen konnten.

Als sie zur Stuhlreihe kamen, in der Kai, Svenja und Henry zwei Plätze für sie freigehalten hatten, hellte sich Leos Laune weiter auf. Er hatte es nicht nur geschafft, sich einen Stuhl neben Alina zu sichern, sondern zu seiner Freude saß Henry auch noch am anderen Ende der Reihe. Keine blöden Sprüche, die er über sich ergehen lassen musste. Kai tat ihm nur ein kleines bisschen leid, weil er nun neben Henry saß.

Leo ließ Alina den Vortritt und setzte sich. Vorsichtig schielte er zu ihr, sah, wie sie die Finger im Schoß auf ihrer Handtasche gefaltet hatte, die Beine überschlagen, sodass sich ihr schwarzes Kleid leicht spannte. Ihm wurde warm, er wusste jedoch nicht, ob es an ihrem Anblick lag oder an dem Umstand, dass sich der prunkvolle Saal zunehmend füllte. Er setzte sich aufrecht hin und konnte bis zu den vorderen Reihen sehen. Bei all den Hochsteckfrisuren der Damen kam er sich wieder wie bei seinem Abiball vor.

Das Gemurmel in den Reihen um sie herum nahm zu und die vielen Sektgläser, die sie am Eingang gereicht bekommen hatten, hinterließen eine leicht prickelnde Note von Alkohol in der Luft, die sich wie eine Wolke unter die Rundbögen des alten Gebäudes legte. Die vielen backsteinernen Säulen trennten Saal und Eingangsbereich voneinander, ohne zu viel Platz wegzunehmen. Durch die hohen Fenster blickte die Dunkelheit herein auf die zahlreichen Kerzenständer, die allerdings nicht mit der Strahlkraft der beiden monströsen Kronleuchter im Raum mithalten konnten.

Leo blickte sich um. Die meisten Gesichter kamen ihm bekannt vor, hier und da fiel ihm auch der Name dazu ein. Sie alle wirkten aufgeregt. Schließlich musste man nicht jeden Tag in einen Anzug oder in ein Kleid schlüpfen. Bei manchen hatte er den Eindruck, sie trugen noch ihr Outfit vom Abiball, so sehr schienen ihm Farben und Muster aus der Mode gekommen zu sein.

Leo dachte an seinen Abiball vor sechs Jahren. Damals waren seine Eltern und sein Bruder dabei gewesen. Zur Partneruniversitäts-Vergabe heute hatte man niemanden mitbringen dürfen. Dabei hätten es seine Eltern verdient gehabt. Er war ihnen unendlich dankbar dafür, dass sie ihm den Weg ermöglicht hatten, den er in den vergangenen Jahren bestritten hatte. Und auch schon davor. Sie hatten ihn stets in allem unterstützt. Als er noch keinen Führerschein besaß, hatten sie ihn zum Boxtraining gefahren und wieder abgeholt, sie hatten seine Fächerwahl in der Oberstufe nicht beeinflusst und erst recht nicht die Wahl seines Studiums. Für sie standen er und sein Bruder Jiro immer an oberster Stelle.

Diese Fürsorge und Liebe wollte Leo zurückgeben, damit sie nicht wie andere Immigranten in die Altersarmut rutschten. Als Unternehmensberater würde er genug Geld verdienen, um einen Teil für sie beiseite legen zu können.

»Aufgeregt?«, flüsterte Alina ihm zu. Leo nickte lächelnd. »Das wird schon.« Sie tätschelte seinen Arm und wandte sich dann Svenja zu.

Ein Klirren ertönte und Leo entdeckte den Prorektor für Internationale Beziehungen, dessen Name ihm immer entfiel. Er klopfte auf der Bühne beherzt gegen sein Sektglas, das unverschämt klein in seinen wuchtigen Händen aussah. Es dauerte mit Sicherheit eine halbe Minute, bis die letzte Person den Prorektor bemerkt hatte und verstummte. Dann war nichts weiter als das Geräusch von vereinzelten Gläsern zu hören, die auf den Boden gestellt wurden.

»Herzlich willkommen zur Vergabe Ihrer Partner-Universitäten!«, rief er in das Mikrofon am Pult, das für ihn bis zum Anschlag nach oben gebogen worden war, und breitete freudestrahlend die Arme aus. Da er nicht weiterredete, startete jemand einen vorsichtigen Applaus, der sich zu einer kleinen Welle hochschaukelte, aber schnell wieder abflachte. Der Prorektor nickte mehrere Male mit geschlossenen Augen.

»Wir freuen uns, für dieses besondere Ereignis eine ebenso besondere Location gefunden zu haben.«

Er drehte sich mit ausgestreckten Armen und offenen Handflächen zu beiden Seiten, als wolle er wie ein Auktionator das nächste Stück präsentieren.

»Das Himmelsschloss hat eine lange Tradition, genau wie unsere Universität und die Teilnahme am internationalen Studierendenprogramm. Und Sie alle sind Teil davon. Sie alle werden im nächsten Semester von hier aus in die Welt aufbrechen und wichtige Erfahrungen in Ihrem Leben machen.«

Wieder nickte er bedeutungsschwer und machte eine Pause. Diesmal traute sich niemand, zu klatschen.

Die nächsten Sätze bekam Leo nicht mit, denn er wurde von Alina abgelenkt, die ihm für einen kurzen Moment die Hand auf den Oberschenkel legte. Er war zunächst überrascht, dass sie ihn einfach so berührte, merkte dann aber, dass etwas anders war, als sie ihre Finger zurückzog.

»Ganz ruhig«, flüsterte sie. »Du brauchst nicht so zu zappeln.«

Erst jetzt wurde ihm klar, dass er vor Aufregung nicht hatte stillsitzen können. Um nicht Gefahr zu laufen, wieder damit zu beginnen, legte er den rechten Fuß auf sein linkes Knie und umfasste sein Schienbein. Er lächelte sie an und bekam ein Zwinkern als Antwort.

»Kommen wir zum spannenden Teil des heutigen Abends«, verkündete der Prorektor. »Ich bin mir sicher, Sie können es kaum erwarten zu erfahren, wo es für Sie hingeht.«

Bitte nach Portugal, dachte Leo. Bitte nach Portugal oder nach Spanien. Er ballte die Fäuste, als wolle er sich selbst die Daumen drücken.

»Ich werde nun immer jeweils eine Gruppe von fünf Studentinnen und Studenten nach vorne bitten. Auf dem Namensschildchen, das Sie am Empfang erhalten haben, steht eine Zahl. Das ist Ihre Gruppe. Starten wir also mit Gruppe eins.« Er klatschte in die Hände und startete damit wieder eine Welle Applaus.

Leo blickte auf das laminierte Namensschildchen an seinem Jackett. Gruppe 3. Alina war vor ihm in der zweiten, die anderen waren laut Svenja erst nach ihm dran. Er spürte Schweiß auf seinen Handflächen und wischte sie an seiner Hose ab. Dann fuhr er sich über den Nacken. Auch dort hatten sich Schweißtropfen gebildet. Er zwang sich, ruhig durch die Nase zu atmen, auf keinen Fall zu laut, sodass es niemand mitbekam.

»Franziska Weber«, rief der Prorektor aus und nahm ein Blatt Papier von einem Stapel. »Sie dürfen nächstes Semester an der Pretoria Business School in Kapstadt studieren.« Er überreichte es ihr und für einen Augenblick musste Leo an die Zeugnisvergabe am Ende seines Bachelorstudiums denken. Damals war er nicht so nervös gewesen, schließlich hatte er seine Noten gekannt. Heute würde er einen Zettel erhalten, von dessen Inhalt er nichts wusste.

Gabriela Martínez war als nächstes dran. »Gabriela«, sagte der Prorektor, »Sie werden an die Haidian University in Peking gehen.« Er klatschte, doch jeder konnte sehen, dass sie nicht glücklich darüber war.

Aus dem Augenwinkel bemerkte Leo, wie sich Henry nach vorne beugte. »Man kann sich sein Ziel eben nicht aussuchen«, sagte er frech.

»Die Arme. Sie wollte doch unbedingt nach Mexiko, auch weil ihre Familie dort ist«, warf Kai ein.

Als der Prorektor mit dem fünften Studenten fertig war, der sich über Stockholm außerordentlich zu freuen schien, gemessen an der Anzahl seiner »Yes«-Rufe, stand Alina auf. Leo drehte sich zur Seite, damit sie nicht über seine Beine steigen musste. »Viel Glück«, sagte er und drückte ihr demonstrativ die Daumen. Sie blickte erst zu ihm, dann zu den anderen in der Reihe, und verzog die Lippen zu einem nervösen Lächeln.

»Toi toi toi«, flüsterte Svenja.

Leo kreuzte die Waden unter dem Stuhl, hielt die Position aber nur für ein paar Sekunden, da die Hose zu sehr spannte. Stattdessen stellte er beide Füße fest auf den Boden und drückte mit den Händen auf die Knie, damit sie bloß ruhig blieben und sich nicht erneut verselbstständigten. Sein Herz klopfte so laut, er hatte Angst, Svenja könnte es hören, obwohl ein Platz zwischen ihnen lag.

»Entschuldigung«, sagte jemand neben ihm, was ihn aufschrecken ließ. Die Kellnerin blickte ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an und hielt das Tablett wie einen Schild vor ihren Körper. »Habt ihr noch Gläser?«

»Ähm …«, begann Leo und beugte sich vor. Er lugte unter die Stühle, mehr als Svenjas Handtasche konnte er aber nicht sehen. Beim Hochkommen stieß er mit dem Kopf gegen den Arm seines Vordermanns, der ihn über die Lehne gelegt hatte. »Sorry«, gab Leo von sich und widmete sich wieder der Kellnerin. Er schüttelte den Kopf, woraufhin sie dankend nickte und zur nächsten Reihe ging. Mit dem Handydisplay als Spiegel strich er sich durch die Haare, um seine Frisur zu richten.

»Alina Ahrens«, sagte der Prorektor ins Mikrofon, was sich wie ein Wecker für Leo anfühlte. Mit einem Mal saß er wieder gerade und reckte den Hals. »Viel Spaß in Madrid an der ESDAN Business School.«

Svenja, Kai und Henry klatschten los und auch Leo stimmte mit ein. Ihr Wunsch war erfüllt worden. Er sah die Erleichterung auf Alinas Gesicht, als sie das Dokument an sich nahm und damit triumphierend in ihre Richtung winkte. Leo freute sich für sie. An seiner Anspannung änderte es jedoch nichts. Ganz im Gegenteil. Er musste sich Luft zufächeln, damit ihm nicht der Schweiß die Stirn runterlief. Er betete inständig, dass er nach Portugal gelost worden war.

»Los, Leo, du bist dran«, sagte Svenja und beugte sich in sein Blickfeld.

Er schluckte und versuchte, ein entspanntes Gesicht aufzusetzen. »Dann geh ich mal.« Er klopfte sich auf die Oberschenkel und warf Kai einen schnellen Blick zu. Der zwinkerte ihm zu, während Henry ihn nicht beachtete und in die Ferne guckte.

Leo stand auf und atmete durch. Seine Handflächen wollten einfach nicht trocknen. Auf dem Weg nach vorn kam ihm Alina entgegen. Sie strahlte ihn über beide Ohren an, schwenkte das Papier und als sie bei ihm war, breitete sie die Arme aus. Die Umarmung tat gut. Sie war zwar nur kurz, aber sie gab ihm Mut. Und Hoffnung. Ihr Duft schien an seinem Kragen kleben zu bleiben, denn er hatte ihn noch immer in der Nase, obwohl sie schon zurück zum Platz gegangen war.

Er traf bei den anderen seiner Gruppe ein und wurde von einer gestresst wirkenden Assistentin auf den vorletzten Platz gebeten. Ihre hektischen Bewegungen machten ihn noch nervöser. Für einen Augenblick war er versucht, auf das Klemmbrett zu spähen, das sie in ihren Fingern hielt, in der Hoffnung, dort schon seine Uni entdecken zu können. Doch vermutlich standen darauf nur die Namen und Gruppen. Sie stolzierte an ihm vorbei und bei jedem Schritt ertönte das Klacken ihrer Absätze auf dem Parkettboden.

Leo senkte den Kopf und schloss die Augen. Gleich würde es sich entscheiden. Gleich würde er Gewissheit haben. Er hörte gar nicht, was der Prorektor den ersten drei Studenten sagte. Wie in einem Tunnel vernahm er nur das Klatschen und das Klacken der Absätze. Dann hörte er seinen Namen.

Er holte noch ein letztes Mal tief Luft, behielt sie für einige Sekunden in seinen Lungen und schritt schließlich an der bereits wild fuchtelnden Assistentin vorbei auf die Bühne. Die Scheinwerfer blendeten ihn und strahlten eine Hitze aus, bei der er sich wunderte, wie es der Prorektor die ganze Zeit dort aushielt. Er wartete, bis Leo fast bei ihm war und wandte sich dann der Liste vor ihm zu.

»Für Sie geht es an die Edo University in Tokio.«

Die Luft blieb ihm weg. Er schluckte und seine Kehle fühlte sich plötzlich so an, als hätte er den ganzen Tag nichts getrunken. Es schmerzte, kratzte in der Luftröhre. Er konnte seine Augen nicht schließen, sie waren starr auf das Gesicht des Prorektors gerichtet und fingen an zu brennen. Edo University. Hatte er das gerade richtig verstanden? Japan? Er?

Applaus kam auf und ließ ihn blinzeln. Er bemerkte, wie ihm der Prorektor das Papier hinhielt und ihn dabei auffordernd ansah. Wie ferngesteuert machte Leo einen Schritt auf ihn zu und nahm es entgegen. Dort stand es Schwarz auf Weiß. Edo University, Tokio. Er konnte noch nicht einmal sagen, auf welcher Position in seinem Ranking der Unis Tokio gestanden hatte. Auf keinen Fall in den ersten zehn Zeilen, da war er sicher. Alles danach hatte er als so unwahrscheinlich abgetan, dass er sich nicht groß darum gekümmert hatte.

Er wandte sich zum Gehen, allerdings mit dem Gesicht zur Wand und nicht zum Publikum. Sie sollten ihn nicht angucken. Nicht die Enttäuschung in seinen Augen sehen, die Niedergeschlagenheit. Die Ohnmacht. All das spiegelte sich in seiner Mimik wider, das wusste er, auch wenn er es selbst nicht sehen konnte. Aber er konnte es fühlen. Seine Augen brannten noch so sehr, dass jede Form von Träne verdampfte, bevor sie überhaupt entstehen konnte. Ein dumpfer Schmerz in seinem Kiefer sagte ihm, dass er seine Zähne wie eine Presse aufeinandergedrückt hatte. Wie lange schon, wusste er nicht.

Noch immer dröhnte es in seinen Ohren, obwohl der Applaus schon längst abgeebbt war. Der Assistentin schien er zu langsam die Bühne zu verlassen, denn sie kam zu ihm und zog ihn leicht, aber bestimmt, mit sich. »Du kannst dich wieder setzen«, sagte sie schnell und schob ihn zur Seite. »Alle neuen Studentinnen und Studenten in einer Reihe aufstellen«, rief sie hinter ihm.

Leo bekam nicht mit, was in seinem Rücken ablief. Er starrte erneut auf die Worte auf dem Papier. Edo University. Tatsächlich. Es stand noch immer dort. Er musste im falschen Film sein. Er musste träumen. Wo war der Ausweg aus diesem Albtraum? Er hob den Kopf. Ein grünes Notausgangsschild leuchtete ihm über einer Tür in der Ecke des Saals entgegen. Nein. Es war kein Traum. Dort hinten saßen seine Freunde und Kommilitonen. Alina wartete bestimmt schon auf ihn.

Er strich sich über den Kragen und die Schultern, aber seine Finger dufteten nach nichts. Ihr Parfum war fort. Stattdessen roch er nur noch den Schweiß, den er mittlerweile auch unter seinen Armen spürte.

Was sollte er machen? Zu seinem Platz gehen, sich hinsetzen und so tun, als würde er sich freuen und den Rest des Abends genießen? Mit Sicherheit nicht. Das konnte er nicht. Vielleicht für ein paar Sekunden, doch dann würde ihn die Realität einholen und verstummen lassen. Er wollte nicht neben seinen glücklichen Freunden sitzen, die ihre Wunsch-Unis erhalten hatten.

»Henry Schmidt.« Der Lautsprecher rief Henrys Namen in sein Ohr. Henry. Alina. Ihm kamen Henrys Worte aus dem Restaurant gestern in Erinnerung. Dass seine Wahl eine Überraschung werden sollte. Jetzt würde er es erfahren. Inzwischen konnte Leo wieder völlig klar sehen. Er drehte sich zur Bühne und sah Henry auf den Prorektor zugehen. »Sie dürfen an die Algarve nach Lissabon.«

Leo ließ die Arme sinken und starrte ungläubig auf den strahlenden Henry, der in die Menge zeigte und dann den Daumen in die Höhe streckte. Leo musste innerlich kurz lächeln, da ihn die Szene an einen Wahlkampf erinnerte, in dem der Politiker der Menge aus Wählern gegenüberstand. Doch leider war dem nicht so. Henry hopste die Stufen herab.

Leo überlegte nicht lange. Ohne sich noch einmal umzudrehen, ging er zum Notausgang und verließ die Veranstaltung.

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